Es war der Sommer 1954. Der kleine, dicke Junge musste niesen. Nicht einmal, zwanzig Mal. Der Heuschnupfen quälte ihn sogar mit Fieber, so dass er nicht zu Schule gehen konnte.
Das war schön. Er lag im Bett und dachte daran, dass ihn die anderen Kinder auslachten, wenn er in der Klasse anfing zu niesen. Sie brachten ihm auch Wäscheklammern und Leukoplast mit.
In den Sommer Ferien wollten die Eltern in den Westerwald. Sie nahmen den älteren Bruder mit und schicken den kleinen 13 Jährigen in ein Jugendlager für Allergiker und Asthmatiker auf der Insel Langeoog. Das Lager bestand aus ehemaligen Armee-Baracken mit je 10 Etagenbetten aus teilweise verrostetem Metall und alten Seegrasmatratzen. Küche, Speisesaal und Büro befanden sich in einem gesonderten Teil des Lagers.
Es regnete, als die Kinder ankamen. Der Junge hatte Mühe, die beiden Taschen zu schleppen. Alle packten ihre Sachen in Metallspinde. Die nasse Kleidung wurde über Wäscheleinen gehängt. Im Schlafraum war es feucht und es stank.
Der kleine, dicke Junge war an die Nachkriegsküche der Mutter gewöhnt. Ungewürzte Schleimeintöpfe und danach Wackelpeter bekam er nicht runter. Er sah, wie in Blechwannen Wasser gefüllt und farbiges Pulver eingerührt wurde. Das war der wackelnde Nachtisch.
Der kleine Junge war unbeliebt. Bei Spielen drinnen gewann er. Wenn es nicht regnete verlor er bei Spielen draussen fast immer. Er wurde ausgegrenzt, gehänselt und ausgelacht.
Er schrieb seinen Eltern lange, verzweifelte Briefe. Er wollte weg, sie sollten ihn abholen. Einmal rief der Vater an und sprach mit der Lagerleitung. „Ihr Sohn ist wehleidig und unangepasst. Alle anderen fühlen sich wohl.“
Der kleine Junge hatte einen Fotoapparat geschenkt bekommen, den sein Vater nicht brauchte, da er nur mit seiner Leica arbeitete. Allein wanderte er über Strand und Dünen und machte seine eigenen Bilder. Es waren festgehaltene Einsamkeiten. Abends beobachtete er die Sonnenuntergänge. Oft saß er am Strand und weinte.
"unterbelichtet" |
Nach zwei Wochen saß er lange am späten Nachmittag am Meer. Er zog sich aus und ging in das flache, glänzenden Wasser. Der nasse Sand quetschte sich durch seine Zehen und er spürte die zurück strömende Flut an seinen Waden. Ab dem hüfthohen Wasser schwamm er der tief stehenden Sonne entgegen.
Ein Spaziergänger erblickte den kleinen Jungen und schrie. Dann streife er sich die Kleidung ab, rannte ins Meer und kraulte. Er erreichte den erstaunt blickenden Jungen, packte ihn und zog ihn an Land. Dort stelle er ihn vor sich hin und knallte ihm eine und brüllte: „Bist du verrückt? Allein! Es wird dunkel und die Ebbe fängt an!“
Am liebsten wäre der kleine, dicke Junge wieder ins weite Meer gegangen.
Er wurde zurück nach Hause geschickt und blieb den Rest der Ferien bei der Oma. Als die Eltern zurück kamen sah der Vater die Fotos. „Du kannst gar nicht fotografieren, ist fast alles unterbelichtet.“
Gift nehmen |
Manfred Spies, 30. Mai 2017
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