Guten Tag, Frau Samira El Ouassil!
Warum jetzt? Ist das Problem so neu in einer bigotten Gesellschaft, die ihre Repressionen mit Konsum und Äusserlichkeiten kompensiert?
Im SPIEGEL äussern Sie sich zum „Fall Julian Reichelt“, dem geschassten Bild-Chefredakteur.
Ihm werden mit Mitarbeiterinnen sexuelle Beziehungen vorgeworfen, die auch unter repressiven Bedingungen entstanden.
Nicht nur in den Medien, im Film und TV-Bereich und in der katholischen Kirche wird über sexuellen Missbrauch geredet. Jede und jeder die/der das bagatellisiert, watet bis zum Hals in der Jauche. Aber Sie gehen in Ihren Verurteilungen weiter:
„Als ich in den vergangenen Tagen mit einigen heterosexuellen Männern sprach, progressiven, aufgeschlossenen, liberalen Typen, nahm ich etwas Seltsames wahr: Diese Männer, die sich selbst als Feministen bezeichnen und die in der Öffentlichkeit zumeist als frauenempowerende Kavaliere auftreten, fanden die ganze Geschichte rund um den ehemaligen »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt natürlich »schlimm für die Frauen« und hielten ihn sinngemäß für ein zu verurteilendes Schwein.
Jedoch äußerten sie ihre Entrüstung mit schräg liegendem Kopf und einem überlegten Willen zur Relativierung. Sie stellten dabei zwar nicht den gesamten Sachverhalt infrage und auch nicht die zu verachtende Frauenfeindlichkeit. Aber es schwang doch eine Art brüderlicher Gleichmut mit, als sie beurteilten, ob man im professionellen Alltag eine Liaison mit einer Berufsanfängerin eingehen darf.“
Sie disqualifizieren damit liberale, aufgeschlossene und sogar feministische Männer, die über die Meldungen nachdenken, als „bigott“. Wir haben „nichts verstanden.“ Wir haben anscheinend alles, so wie Sie es sehen, nicht nur zu tolerieren, sondern zu akzeptieren. Das schließt ein Miteinander unterschiedlicher Meinungen aus. Deshalb ziehe ich es vor, als von Ihnen Ausgegrenzter, die Diskussion über Ihren Reichelt-Artikel hier zu beenden.
Ich wende mich gern einem anderen Aspekt zu, der bei dieser ganzen Missbrauchs-Diskussion völlig unberücksichtigt bleibt. Ihr erster Satz lautet:
„Bei sexuellen Beziehungen in einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis schwingt der Machtmissbrauch immer mit.“
Nach dem millionenfachen Machtmissbrauch von weiblichen Mitarbeiterinnen gegenüber ihren Vorgesetzten, denen sie sich bereitwillig breitbeinig in Betten legen, wird nicht gesprochen. Da sehe ich keine Angst der Frauen, sondern vielmehr einen starken Willen, nach oben zu kommen. Und zwar nicht nur mit Fähigkeiten am Arbeitsplatz.
Ist das unbekannt? Wird das den Frauen zuliebe verdrängt, weil man Angst hat, in der falschen Schublade endgültig abgelegt zu werden, wenn man es thematisiert?
Frauen, die von sich aus sexuelle Beziehungen mit Entscheidungsträgern und Vorgesetzten eingehen, sind seit sehr langer Zeit die Normalität. Nicht nur Herr Dieter Wedel ist in Erinnerung. In der Werbe- und Modebrache, bei Film, Fernsehen und Medien und darüber hinaus auch in der gesamten Wirtschaft. Bei sexuellen Beziehungen in einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis sind nicht nur Männer in den Startlöchern.
Und kann man nur dann von Missbrauch reden, wenn es um ein Von-Oben-Nach-unten geht? Die Verführung von Führungskräften geschieht von unten nach oben.
Das wissen schon Schülerinnen, und Frauen nutzen die Betonung ihres Äußeren nicht nur, um sich selbst schön zu finden. Auch in der Sendung von Markus Lanz vor zwei Tagen am 21.10.2021 bemängelte die Journalistin Caroline Rosales von der ZEIT, dass sie wegen ihres Aussehens eingestellt wurde. Ich bin etwas irritiert, wenn ich dabei ihr Aussehen und ihren knallrot geschminkten Mund betrachte, den man durchaus als „aufgedonnert“ bezeichnet kann.
Auch Sie machen wirksam auf sich aufmerksam. Natürlich nehme auch ich gern ihre Erscheinung wahr, würde aber trotzdem ihre Mappe mit Artikeln beim Vorstellungsgespräch lesen. Aber ich bin ja disqualifiziert, weil ich wage, nachdenklich und relativierend zu sein.
Frau Samira el Quassil, bemängelt,wegen ihres Aussehens eingestellt worden zu sein |
Warum jetzt? Ist das Problem so neu in einer bigotten Gesellschaft, die ihre Repressionen mit Konsum und Äusserlichkeiten kompensiert?
Über Sex am Arbeitsplatz stand am 8. Dezember 1977 im stern auf Seite 25: "Eine Frau ist ein Wesen, das gebumst, gevögelt und gefickt wird."
Als ehemaliger Creative Director einer Werbeagentur habe ich alles vielfach bei Models, Fotografinnen, Designerinnen und Mitarbeiterinnen der unterschiedlichsten Branchen erlebt. Ich habe mich dagegen gewehrt, weil ich Objektbeziehungen allenfalls zu Schuhen habe. Ich lernte, die „Fuckability“ wird wechselseitig erprobt.
Einer meiner ersten Freundinnen, die erst ihren Lehrer und später als Studentin ihren Tutor verführte, prophezeite ich: „Du schläfst mit deinem Tutor, dann als Assi mit dem Prof.. Später als Literatur-Mitarbeiterin mit dem Abteilungsleiter und so weiter. Sie wurde keine bekannte Literatur-Moderatorin, aber hatte zwei TV-Sendungen.
In Abwandlung eines Sponti-Spruchs von 1968 höre ich tatsächlich von Frauen und lese es im Internet in femininen Netzwerken:
„Wer zweimal mit demselben fickt,
ist aufstiegsmäßig nicht geschickt.“
Der eine nutzt seine berufliche Position, um Untergebene für seine sexuellen Bedürfnisse gefügig zu machen.
Die Untergebene nutzt die virilen Gegebenheiten des Vorgesetzten, um beruflich voran zu kommen.
Beides ist eine Herabsetzung des Anderen und heute normal und deshalb eine gesellschaftliche Selbstverurteilung.
Manfred Spies
Sonntag, 24.10.2021
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